1991, Los Angeles, Melrose Avenue, schräg und cool und versifft und fremd und laut und anonym, also genau das, was man als junger Mensch so braucht, damit man später was zu erzählen hat. Die Nähe zu South-Central und den dort aktiven Gangs triggerte mein Lebensgefühl ins sexy Surreale, zumal tatsächlich manchmal Schüsse zu hören waren. Das kannte ich zwar auch aus meiner Jugend im Reihenhaus in NRW, wusste aber damals sicher, dass dort mit Luftgewehren nach Spatzen geschossen wurde, in manchen Fällen auch nach Maulwürfen, das gehörte da und dort quasi zur erweiterten Gartenarbeit. Davon war in L.A. nicht auszugehen.
Ich blieb zwischen zwei Stylingjobs in town um mich von der Beschäftigung mit Businesslooks, Countrystyle und sportlich eleganter Freizeitkleidung der Fotoproduktionen zu erholen und dort hinzugehen, wo nach meiner Auffassung das wirklich wahre Leben spielt, also vor allem in die durchgeknallten kleinen Shops auf der Melrose. Bei einem Tiki-Fan-Ausstatter konnte ich meine Sammlung mit Trinkbechern in Form von Affenköpfen aufstocken, in einer Harley-Werkstatt entdeckte ich ein fettes Silberarmband mit aufgesetzten Skulls & Bones, das war damals sozusagen systemrelevant. Sogar ein Spielkartenquartett mit Serienmördern habe ich gekauft, zu der Zeit und in Abgrenzung zu kommerziellen Stylingjobs, genau mein Humor.
Dann kamen meine liebsten Kund*innen mit der neuen Modekollektion aus Deutschland angejettet, Businesslook, Countrystyle und sportlich-elegante Freizeitkleidung. Klar, das erste Dinner in L.A. musste zur Festigung der kreativen Reputation auf der Melrose stattfinden, also führte ich die Truppe in ein für ordentliche Mitteleuropäer ziemlich schräges, aber eigentlich eher harmlos-lustiges mexikanisches Gartenrestaurant mit Outdoor-Klima-Anlage. Die Tische auf den Bürgersteigen vorm Lokal wurden abends nicht bewirtschaftet, das war zu gefährlich, so warnte ich schon mal ungefragt die aufgeregt erschauernden Kunden*innen.
Gegen Mitternacht saßen alle satt und in beschwingter Frozen-Margarita-Laune im vorbestellten Taxi, froh und erleichtert, der Gefahrenzone fürs Erste entronnen zu sein. Noch ein letzter Blick mit Sicherheitsabstand aus dem sechzehnten Stock des Doubletree-Hotels und dann mit dem auch nicht ganz regelmäßigen Rauschen der Klima-Anlage in den Schlaf geglitten.
Nachts wurde wieder geschossen und zwar mehr als einmal und überall und ohne Unterbrechung gab es kreisende Hubschrauber und Polizeisirenen, wobei die amerikanischen sich so anhören, wie man sich als Nachkriegskind einen Luftangriff vorstellt. Wieder ans Fenster. Dicke Rauchwolken über South Central.
Der Moment, an dem man begreift, dass das alles nicht im TV läuft, kein Wegzappen, kein Leisermachen. Also die ganze Nacht. Es war die Gewalttat gegen Rodney King, begangen vom Los Angeles Police Department, gefolgt vontagelangen Riots.
Wir haben unser Foto-Shooting in die Luxus-Spielzeugeisenbahnwelt von Palm Springs verlegt – die hat auch was Surreales – und sind sehr betreten an die Arbeit gegangen. Businesslook, Countrystyle und sportlich-elegante Freizeitkleidung hatten plötzlich eine ausgesprochen beruhigende Wirkung, die schönen Schauer der Vortage waren nur noch peinlich und beschämend. Eine Woche später, zurück in L. A. habe ich auf der Melrose dieses T-Shirt gekauft: L.A.P.D. – We Treat You Like a King.
Das letzte Mal war ich vor drei Jahren in Los Angeles. Die Melrose ist gentrifiziert, die Stühle auf den Bürgersteigen Tag und Nacht besetzt, dry soymilk Latte Macchiato double-shot decaf to go (da geht noch was Berlin-Neukölln).
T-Shirts mit kontroversen Aufdrucken gab es dort nicht mehr zu kaufen, aber grundsätzlich hat sich nach 29 Jahren, so wie es aussieht, immer noch nichts geändert.
BLACK LIVES MATTER.